Die Digitalisierung im Gesundheits­system

Politikbrief vom 06.06.2018: Im Gesundheitssystem stehen einige Veränderungen an. Der Risikostrukturausgleich, der im Gesundheitsfonds verankert ist, muss auf den Prüfstand. Die Große Koalition ist gefordert, ihn zu reformieren.

Politikbrief vom 06.06.2018: Im Gesundheitssystem stehen einige Veränderungen an. Der Risikostrukturausgleich, der im Gesundheitsfonds verankert ist, muss auf den Prüfstand. Die Große Koalition ist gefordert, ihn zu reformieren.

Lutz Kaiser

Die Digitalisierung bringt ganz neue Möglichkeiten und Chancen mit Vorteilen für alle Beteiligten im Gesundheitswesen. Die Pronova BKK will digitale Innovationen, von denen Versicherte profitieren, zügig nutzen und beschreitet neue Wege. Erste Projekte laufen bereits. So helfen E-Coaches etwa bei der Stressbewältigung oder bei der Gewichtsreduktion, antworten Kundenberater im Chat auf jede Frage und lassen sich Unterlagen online in der Bonusprogramm App hochladen.

Wir bei der Pronova BKK haben bemerkt, dass die Komplexität des Gesundheitssystems und die rasante Entwicklung der Digitalisierung selbst bei Marktteilnehmern viele Fragen offenlassen. Als Krankenkasse mit 660.000 Versicherten und über 200 Jahren Erfahrung möchten wir die gesundheitspolitische Diskussion mit Fakten und Erkenntnissen bereichern.

Je fundierter die Debatte geführt wird, umso größer sind die Chancen auf kluge Weichenstellungen für die Zukunft und nachhaltige Verbesserungen der Gesundheitsversorgung. In diesem Sinne soll die vorliegende Publikation "Zukunft Gesundheit" informieren, Denkanstöße geben und die Pronova BKK als kompetenten Partner zum Austausch empfehlen.

80 Prozent der Menschen in Deutschland wollen digitales Gesundheitssystem​

Die deutsche Bevölkerung gilt im weltweiten Vergleich als besonders sensibel, wenn es um die Nutzung ihrer Daten geht. Laut der Studie "Zukunft der Gesundheitsversorgung" der Pronova BKK sind aber 77 Prozent der Deutschen gern bereit, Haus- und Fachärzten umfangreiche Informationen zu ihrer persönlichen Gesundheitsgeschichte digital freizugeben. 80 Prozent haben großes Vertrauen in ihre Ärzte, wenn es um die Einhaltung von Datenschutzvorschriften geht.

Bis die Bundesbürger diesen Vorteil flächendeckend nutzen können, müssen sie jedoch noch warten. Bislang gibt es nur erste Pilotprojekte einzelner Marktteilnehmer.

Von ihrer Krankenkasse wünschen sich die Versicherten mehr Beratung. 88 Prozent sind der Meinung, dass die Kassen dabei auf Informationen über ihre Versicherten, die ihnen sowieso bereits vorliegen, zugreifen dürfen sollten. Dies ist derzeit vom Gesetzgeber nicht erlaubt, selbst dann nicht, wenn die Daten anonymisiert verarbeitet werden. Zwei von drei Befragten sprechen sich daher für eine Aufhebung dieses Verbotes aus, sofern geltende Datenschutzregeln eingehalten werden. Ebenso viele vertrauen ihrer Krankenkasse in punkto Datenschutz.

Online-Videosprechstunden von Ärzten würden nach Meinung von 80 Prozent der Befragten zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung auf dem Land führen. Dort herrscht zunehmender Ärztemangel, weil Mediziner in ihren Leistungen heute strenger reglementiert werden als früher und sich eine Praxis am ehesten in Ballungsräumen rentiert. Bereits mehr als jeder zweite Bundesbürger ist bereit, einen regulären Arztbesuch durch eine Online Videokonferenz zu ersetzen, wenn keine körperliche Untersuchung notwendig ist. Für eine Zweitmeinung würden sogar 71 Prozent eine Online-Videosprechstunde in Anspruch nehmen. Im Rahmen des so genannten E-Health-Gesetzes sind Videosprechstunden aber nur dann erlaubt und als Kassenleistung abrechenbar, wenn die Person bereits Patient ist und regelmäßig die Praxis des Arztes besucht. Das zugrunde liegende Fernbehandlungsverbot soll auch nach Beschluss des Deutschen Ärztetages Anfang Mai gelockert werden.

Interview mit Vorstand Lutz Kaiser

Welche Voraussetzungen müssen für eine erfolgreiche Digitalisierung geschaffen werden? Lutz Kaiser, Vorstand der Pronova BKK, über Chancen und Möglichkeiten, aber auch Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Veränderungen im Gesundheitsbereich.

Herr Kaiser, wie digitalisiert man das deutsche Gesundheitswesen?
Dreh- und Angelpunkt kann die elektronische Patientenakte werden, in der Informationen zur persönlichen Krankengeschichte gespeichert werden. Auf diese Weise wird die individuelle Versorgung verbessert. Ein Blick über die Grenzen zeigt, wie es funktionieren kann. In Estland beispielsweise werden in einer nationalen Datenbank Eintragungen durch Ärzte und Pflegekräfte gespeichert. Die Patienten sind im Besitz dieser E-Health-Daten, sie entscheiden selbst, welche Daten zur Verfügung gestellt werden und welche nicht. Das macht den Patienten bei der Gesundheitsversorgung zum mündigen Bürger.

Was kann die Digitalisierung leisten?
Es ist wichtig, dass alle Beteiligten sich vernetzen, um das bestmögliche Ergebnis für die Patientinnen und Patienten zu erzielen. Zugleich erlangt man auf diese Weise mehr Effizienz. Die Digitalisierung eröffnet neue und effiziente Möglichkeiten, wie Ärzte, Kliniken, Pflegekräfte oder auch Apotheken noch besser zum Wohle der Patienten zusammenarbeiten können. Bislang werden diese Chancen zu wenig genutzt. Die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens ist längst überfällig.

Besteht auch Hoffnung auf eine Beschleunigung der Prozesse?
Natürlich lassen sich auf dem virtuellen Kanal viele Kommunikationswege abkürzen und beschleunigen. Zum 01.01.2019 werden große Teile der Abrechnungsprüfung ärztlicher Behandlungen beispielsweise auf elektronisch gestützte Verfahren umgestellt. Durch den digitalen Datenaustausch wird das Gesundheitssystem also deutlich effizienter. Grundsätzlich gilt: Daten sollten in dem Moment digital vorliegen, in dem sie entstehen.

Was ändert sich bei der Pronova BKK?
Wir nutzen die digitalen Möglichkeiten, um noch näher an unseren Kunden zu sein. Das ist aus unserer Sicht eine großartige Chance. Schon jetzt können unsere Versicherten vieles direkt online erledigen und sich den Weg in die Geschäftsstelle oder den Brief an uns sparen. Unser Kundenberatungs-Chat beantwortet viele Fragen sofort. Wir arbeiten stetig daran, unsere Online-Services zu verbessern. Derzeit entwickeln wir Chatbots, die unsere Online-Kundenberatung unterstützen und rund um die Uhr ansprechbar sind. Nur wer sich bewegt, kann sich verbessern.

Was könnte eine digitale Versorgung denn besser?
Sie kann Lücken schließen – zum Beispiel bei der Versorgung mit Medikamenten. Apotheken, die nah am Wohnort sind, spielen eine bedeutende Rolle, aber zur flächendeckenden Versorgung sollte auch der Versandhandel genutzt werden können. Zurzeit muss ja für den Versand von verschreibungspflichtigen Medikamenten zunächst das Rezept per Post eingereicht werden. Das dauert natürlich. Es ist nicht nachvollziehbar, warum das sein muss. Ein Scan würde es auch tun. Wir setzen uns dafür ein, dass auch das Apothekenwesen im digitalen Zeitalter ankommt.

Auf digitalem Wege näher an die Menschen: Was die Pronova BKK im Bereich Digitalisierung und Telemedizin bietet bzw. vorantreibt

Vor allem die Kundinnen und Kunden sind „Treiber“ der digitalen Transformation – und die Pronova BKK kommt ihren Wünschen gern entgegen. Die Menschen wollen zunehmend vernetzte Online-Tools und -Services. Die digitalen Kunden möchten abgeholt werden. Bei den Neuerungen antizipiert die Pronova BKK die Bedürfnisse der Menschen.

Viele Dinge, für die die Versicherten früher in die Geschäftsstelle gehen oder einen Brief verfassen mussten, können heute in der Online-Geschäftsstelle erledigt werden. Dazu gehört zum Beispiel das Einreichen der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Mit Online-Tools gelingt es auch immer besser, die Menschen aktiv zu begleiten. So ist die Bonusprogramm-App online, über die Untersuchungen einfach eingetragen und Nachweise hochgeladen werden können. Das spart nicht nur Papier, sondern auch Zeit und Nerven.

Im Mittelpunkt steht für die Pronova BKK seit jeher das „Kümmern“. Und das lässt sich mit den neuen digitalen Möglichkeiten ebenfalls verbessern. So ist bei der Pronova BKK ein Kundenberatungs-Chat verfügbar. Demnächst soll dieser Verstärkung durch Chatbots bekommen, die dann rund um die Uhr viele Fragen direkt beantworten können. Diese Kommunikationsroboter sind gerade noch in der Entwicklungsphase. Für die Pronova BKK sind Chatbots eine weitere Chance, mit Kundinnen und Kunden in Kontakt zu treten, Fragen zu beantworten und Anliegen sofort zu klären. Für die Menschen sind Gesundheitsfragen so schneller erledigt – das sorgt für mehr Zufriedenheit. Für uns sind diese Online-Tools ein Meilenstein der digitalen Transformation.

Ein besonderer Service ist der Ärzte-Videochat. Versicherte können online einen Termin vereinbaren und sich dann mit einem Mediziner des gewünschten Fachgebiets per Kamera austauschen. Die Videosprechstunde ersetzt natürlich nicht die körperliche Untersuchung in der Arztpraxis, aber sie kann Fragen beantworten.

Wer neue Kraft sucht oder Hilfe in schwieriger Lage benötigt, kann online Begleitung finden. Dort stehen Trainer bereit, so genannte E-Coaches, die über mehrere Wochen bei einem Gesundheitsprojekt der Wahl unterstützen. Unter den Angeboten der Pronova BKK sind zum Beispiel ein Fitnesstrainer, der zehn Wochen lang mit Übungen und Tipps beim Sport hilft, ein Ernährungsberater, ein Stress-Coach, der Techniken zur Entspannung und zum Stressabbau parat hat, und ein Pflegebegleiter, der Pflegenden im Umgang mit Sorgen und Konflikten den Rücken stärkt.

Weil wir uns kümmern: Die Pronova BKK ...

  • Gehört zu den 20 größten gesetzlichen Krankenkassen
  • Ist die viertgrößte Betriebskrankenkasse
  • Kümmert sich um rund 660.000 Versicherte
  • Verfügt über 60 Kundenservice- und Beratungsstellen bundesweit
  • Hat mehr als 1.400 Mitarbeiter

Die Geschichte der heutigen Pronova BKK reicht weit in die Vergangenheit zurück: Ihre Wurzeln liegen im Jahr 1815. Damit gehört sie zu den ältesten Krankenversicherungen Deutschlands. Und mit rund 660.000 Versicherten zählt die Pronova BKK auch zu den bundesweit größten Krankenkassen.

Es war der Kölner Verleger Marcus DuMont, der im Jahr 1815 eine so genannte Krankenunterstützungskasse gründete. Damit war der Unternehmer seiner Zeit weit voraus. Ein soziales Netz gab es noch nicht. Wer zu krank zum Arbeiten war, bekam weder Lohn noch Krankengeld. DuMont war einer der ersten Arbeitgeber, der sich tatkräftig für die Belange seiner Beschäftigten einsetzte. Spätestens mit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 gründeten viele Unternehmen ihre eigenen Betriebskrankenkassen. Mehr als 40 von ihnen gehören zu den Ursprungskassen der heutigen BKK.

Seit dem Jahr 2007 firmiert sie als gemeinschaftliche Betriebskrankenkasse unter dem Namen Pronova BKK. Sie ist aus den Fusionen von Betriebskrankenkassen einiger der bedeutendsten Unternehmen Deutschlands entstanden – darunter die Bayer AG, BASF SE, Continental AG und die Ford-Werke.

Betriebskrankenkassen fußen auf dem Prinzip der sozialen Verantwortung. Bei der Pronova BKK hat das eine 200-jährige Tradition, die wir uns bewahren. Unsere Maxime ist das "Kümmerer-Prinzip". Es definiert unsere Haltung des wertschätzenden Miteinanders.

Was aktuell gesund­heitspolitisch ansteht: Ausgestaltung der GroKo-Gesundheitspolitik

  • Verteilung der Mittel aus Gesundheitsfonds benachteiligt Mitglieder vieler Krankenkassen
  • Kritik am Risikostrukturausgleich von Betriebs-, Ersatz und Innungskrankenkassen

Wenn die einkommensabhängigen Zusatzbeiträge aus dem Gesundheitsfonds verteilt werden, gehen Beiträge der Mitglieder der Pronova BKK an andere Kassen. Das ist systembedingt, aber aus Sicht der Pronova BKK negativ. Denn es schafft für die Kassen kaum noch Anreiz für wirtschaftliches und effizientes Handeln.

Ab 2019 sollen die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung finanziell entlastet werden. Dies geschieht zum einen durch die bereits im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD verankerte Rückkehr zur vollständigen paritätischen Finanzierung. Arbeitgeber und Arbeitnehmer tragen künftig nicht mehr nur den allgemeinen Beitragssatz, sondern auch den kassenindividuell erhobenen Zusatzbeitragssatz gemeinsam und zu gleichen Teilen.

Mit der Wiederherstellung der Parität muss aus Sicht der Pronova BKK jedoch auch eine Reform des vollständigen Einkommensausgleichs einhergehen. Durch diesen Ausgleich erhält die Pronova BKK aktuell nur einen Teil der von ihren Mitgliedern gezahlten Beitragsgelder. Der andere Teil wird über den Gesundheitsfonds an alle Kassen verteilt.

In der Praxis bedeutet das, dass Teile dieser Zusatzbeiträge an Kassen gehen, die ohnehin schon einen niedrigen Zusatzbeitragssatz erheben. So werden Gelder, die unsere Mitglieder an "ihre Pronova BKK" zahlen, zweckentfremdet. Unsere Mitglieder zahlen höhere Zusatzbeiträge, als wir zur Deckung ihrer Kosten eigentlich veranschlagen müssten. Zugleich können andere Kassen günstigere Zusatzbeiträge anbieten, oder sie bekommen mehr Geld, als sie benötigen, und zahlen dies zum Beispiel als Prämie aus.

Wettbewerbsnachteil: Die Politik ist gefordert

Aus Sicht der Pronova BKK bietet das bestehende System den Kassen kaum noch Anreiz für Wirtschaftlichkeit und effizientes Management. Und den Versicherten ist diese Praxis kaum zu erklären. Deshalb ist für die Pronova BKK das mit Abstand wichtigste politische Thema eine Reform des Morbi-RSA.

Koalitionsvertrag sieht Überprüfung vor

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD sieht vor, den Morbi-RSA mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs weiterzuentwickeln und vor Manipulationen zu schützen. Bei der Pronova BKK stößt das auf große Zustimmung. "Uns ist sehr an einer schnellen Änderung gelegen, die nicht erst die Vorlage aller bislang beauftragten Gutachten abwartet", sagt Lutz Kaiser, Vorstand der Pronova BKK. "Und für die Zeit, bis diese ihre Wirkung entfaltet, benötigen wir sehr kurzfristig eine Übergangslösung."