Reform des Morbi-RSA: Damit die Solidar­gemeinschaft wieder solidarisch ist

Politikbrief vom 18.09.2018: Heute informieren wir Sie über ein Thema, das so komplex wie umstritten ist und dessen Name bereits viele in die Flucht schlägt: den Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) zwischen den Krankenkassen.

Politikbrief vom 18.09.2018: Heute informieren wir Sie über ein Thema, das so komplex wie umstritten ist und dessen Name bereits viele in die Flucht schlägt: den Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) zwischen den Krankenkassen.

Lutz Kaiser

Kurz gesagt, berücksichtigt der Morbi-RSA den gesundheitlichen Zustand der Versicherten. Und ist damit die zentrale Stelle für die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen. Kassen mit vielen kranken und älteren Mitgliedern bekommen höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Damit sollen zwei Ziele erreicht werden: Die Gelder sollen dahinfließen, wo sie für die Behandlung der Versicherten gebraucht werden. Und es soll ein fairer Wettbewerb unter den Krankenkassen sichergestellt werden.

So weit, so gut. Allerdings werden beide Ziele mit dem jetzigen Modell nur ungenügend erreicht. Warum das so ist und wie wir das ändern können, lesen Sie auf den folgenden Seiten.

Wir kümmern uns um die Bedürfnisse unserer 670.000 Versicherten. Damit meine ich nicht nur die Leistung und den Service, sondern auch die aktive Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Daher kümmern wir uns auch um faire Wettbewerbsbedingungen im Krankenkassenmarkt. Hier besteht ein erheblicher Handlungsbedarf, da einige Krankenkassen niedrigere Beitragssätze anderer Kassen mit finanzieren.

Das Problem der Finanzierung betrifft auch die derzeit wohl größte Herausforderung im Gesundheitssystem: den Fachkräftemangel im Pflegebereich. Die Bundesregierung geht davon aus, dass in Deutschland mindestens 35.000 Pflegekräfte benötigt werden. Während in der Altenpflege rund 23.000 Stellen offen sind, fehlen der Krankenpflege mehr als 12.000 Pflegekräfte sowie Pflegehelferinnen und -helfer. Wir begrüßen es deswegen ausdrücklich, dass die Politik mit einem Programm 13.000 Stellen zusätzlich schaffen will. Die Förderung der Ausbildung von Pflege-Nachwuchs und Investitionen in die Digitalisierung, um Pflegekräfte von Bürokratie zu entlasten, sind ebenfalls wichtige Maßnahmen. Eine bessere Pflege ist aber auch mit höheren Kosten verbunden, die gerecht verteilt werden müssen.

So funktioniert der Morbi-RSA: Finanzierung der Gesetzlichen Kranken­kassen

Ziel jeder gesetzlichen Krankenversicherung ist es, ihre Versicherten im Krankheitsfall bei allen notwendigen Behandlungen zu unterstützen und die anfallenden Kosten zu übernehmen. Diesen finanziellen Aufwendungen stehen die Einnahmen aus den Beiträgen gegenüber, die sich nach der Einkommenshöhe der Versicherten richten. Die Versichertenstrukturen der Kassen sind jedoch höchst unterschiedlich, sodass zwischen den Aufwendungen und Einnahmen finanziell erhebliche Unterschiede je Kasse bestehen.

Um das Risiko gerechter unter den Krankenkassen zu verteilen, wurde der Risiko-Struktur-Ausgleich (RSA) bereits 1994 als Ausdruck des in Deutschland herrschenden Solidarprinzips eingeführt. Dieser RSA wurde zunächst anhand der Faktoren Alter, Geschlecht und Erwerbsunfähigkeit der Versicherten einer Kasse ermittelt. Nach Zwischenschritten änderte sich 2009 mit der Einführung des „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches" (Morbi-RSA) per Gesetz die Verteilung der Gelder an die Krankenkassen. Während zuvor die Beiträge der Versicherten direkt an die jeweilige Krankenkasse geflossen sind, gehen seither alle Beiträge zunächst an den Gesundheitsfonds, werden dort zentral gesammelt und dann den gesetzlichen Kassen zugeteilt.

Der heutige Morbi-RSA orientiert sich an den 80 kostenintensivsten oder häufigsten Krankheiten. Die Höhe der Zuweisungen an die Krankenkasse entspricht dann den ermittelten standardisierten Ausgaben. Das sind Ausgaben, die Versicherte aufgrund ihres Alters, Geschlechts und möglicher Vorerkrankungen voraussichtlich verursachen werden. Für Versicherte, die unter einer dieser Krankheiten leiden, erhält die Kasse entsprechend mehr Geld. Mit dieser Maßnahme wollte der Gesetzgeber für einen fairen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen sorgen und Risikoselektionen vermeiden. Warum diese Aufgabe nur ungenügend erfüllt wird, lesen Sie auf den folgenden Seiten.

Interview mit Vorstand Lutz Kaiser

Lutz Kaiser, Vorstand der Pronova BKK, über die Schwachstellen des Morbi-RSA und Lösungsansätze zur Verbesserung.

Herr Kaiser, was genau sollte der Morbi-RSA ursprünglich bewirken?

Kurz gesagt, wurde der Morbi-RSA eingeführt, um den Kassenwettbewerb gerechter zu gestalten und die Effizienz und Qualität der Versorgung der Versicherten zu verbessern. All dies, ohne den solidarischen Charakter der gesetzlichen Krankenversicherung zu beeinträchtigen.

Wird der Morbi-RSA aus Ihrer Sicht diesen Zielen gerecht?

Nein, das zeigt sich sehr klar an den ungerecht verteilten Zuweisungen. Dieses Instrument muss von Seiten der Politik zügig und deutlich nachgebessert werden.

Können Sie die wichtigsten Kritikpunkte am derzeitigen Finanzierungssystem nennen?

Sehr gerne: Erstens bekommen rund zehn Prozent des Zusatzbeitrages, den die Pronova BKK von ihren Mitgliedern erhebt, nicht wir, sondern andere Kassen, ohne dass diese einen Bedarf hierfür haben. Diese unsinnige Subventionierung günstiger Zusatzbeiträge bei anderen Kassen durch Beitragszahlungen unserer Mitglieder muss beendet werden. Zweitens basieren unsere Krankengeldzahlungen an arbeitsunfähige Mitglieder auf deren Gehaltsstrukturen. Aus dem Gesundheitsfonds bekommen wir aber deutlich niedrigere Zuweisungen erstattet. Auch diese Differenz müssen wir über den Zusatzbeitrag ausgleichen. Und drittens ist die Aufsichtspraxis in Bund und Ländern sehr unterschiedlich, wodurch oftmals die Krankenkassen unter Aufsicht des Bundesversicherungsamtes – wie die meisten Betriebskrankenkassen– schlechter behandelt werden.

Welche Folgen hat das?

Ein wichtiger Punkt ist, dass es zu einer ungerechten Spreizung der Deckungsbeiträge kommt. So erhalten insbesondere die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) seit Jahren mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich, als sie zur Deckung der Leistungsausgaben für ihre Versicherten benötigen. Damit kann die AOK ihre Finanzreserven ausbauen, während es anderen Wettbewerbsteilnehmern an Geldern fehlt. Diese Differenzen werden sich in den nächsten Jahren noch verstärken, wenn die Politik hier nicht schnellstens korrigierend eingreift.

Und inwiefern betrifft das die Versicherten?

Die Versicherten werden insofern benachteiligt, dass die finanziellen Mittel für die Versorgung ihrer Kasse zunächst nicht ausreichend zur Verfügung stehen und dafür Zusatzbeiträge erhoben werden. Diese Zusatzbeiträge finanzieren dann aber nochmal andere Krankenkassen mit. Wir schaffen es durch große Anstrengungen, unsere Verwaltung schmal zu halten und einen hervorragenden Service für unsere Versicherten anzubieten. Im Prinzip werden wir dafür auch noch bestraft. Diese Ungerechtigkeit muss aufhören.

Was sind die wichtigsten drei Änderungen, die man am Morbi-RSA durchführen müsste, um die genannten Probleme auszuräumen?

Wir müssen durch eine Änderung der Zuweisungsströme zu einer gerechteren Finanzierung kommen. Hier sollte der Einkommensausgleich beim Zusatzbeitrag gestrichen oder zumindest auf die Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitrages beschränkt werden. Zusätzlich sollte berücksichtigt werden, dass viele BKK-Mitglieder in hochspezialisierten Facharbeiterberufen tätig sind und mit ihren Gehältern einen Anspruch auf höheres Krankengeld haben, als über die GKV-Durchschnittszuweisung beim Krankengeld den Kassen zugewiesen wird. Und schließlich sollte die Aufsichtspraxis zwischen Bund und Ländern vereinheitlicht werden.

Damit die Solidar­gemeinschaft wieder solidarisch ist: Maßnahmen zur Umgestaltung den Morbi-RSA

Die Pronova BKK sieht sich von jeher als Kümmerer: Das betrifft nicht nur die Fürsorge im Alltag gegenüber den Versicherten. Es bedeutet auch, dass die Krankenkasse die politischen Rahmenbedingungen für das Gesundheitswesen aktiv mitgestaltet. Aus diesem Grund engagiert sich die Pronova BKK bei der Reformierung des umstrittenen Morbi-RSA.

Es ist Zeit, den Morbi-RSA zu überarbeiten. Nur so erhalten wir eine ausgeglichene Finanzierung im Gesundheitssystem, die einfach, transparent und manipulationssicher ist – und am Ende der gesamten Solidargemeinschaft zugutekommt. Das ursprüngliche Ziel der Umverteilung aus dem Gesundheitsfonds war es, die Beiträge dorthin zu leiten, wo sie für die Versorgung gebraucht werden. Das heutige System führt aber in erster Linie dazu, dass Kassen wie die AOK immer weiter Vermögen anhäufen, während gleichzeitig andere Wettbewerbsteilnehmer nicht mehr wirtschaftlich arbeiten können. Diese erhöhen wiederum ihre Zusatzbeiträge, gesunde Versicherte verlassen die Kasse. Eine Abwärtsspirale entsteht. Insolvenzen drohen und Monopole bilden sich aus.

Schon 2016 lag der Unterschied bei den Deckungsbeiträgen zwischen der finanzstärksten und der finanzschwächsten Kasse bei rund 2,5 Milliarden Euro, was 109 Euro pro Versicherten entspricht. Wenn sich an dem System bis 2022 nichts ändert, wird diese Spreizung auf 5,1 Milliarden Euro steigen. Die Pronova BKK fordert daher kurzfristige Änderungen an dem System Morbi-RSA auf verschiedenen Ebenen. Folgende Maßnahmen sind dafür unerlässlich:

  • die Beendigung der unsinnigen Subventionierung günstiger Zusatzbeitragssätze von anderen Kassen durch Beitragszahlungen unserer Mitglieder; der Einkommensausgleich beim Zusatzbeitragssatz ist zu streichen oder zumindest auf die Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes zu beschränken
  • die Berücksichtigung der Grundlohnkomponente beim Krankengeld
  • eine einheitliche Aufsichtspraxis

Seit 2015 wurden von der Politik vier Gutachten zur Reform des Morbi-RSA in Auftrag gegeben und vorgelegt. Weitere Gutachten werden keinen neuen Erkenntnisgewinn bringen. Das, was jetzt zählt und Fortschritt bringt, kann nur eine Entscheidung der Politik sein.

Weil wir uns kümmern - Die Pronova BKK ...

  • Gehört zu den 20 größten gesetzlichen Krankenkassen
  • Zählt zu den größten Betriebskrankenkassen
  • Kümmert sich um rund 670.000 Versicherte
  • Verfügt über mehr als 60 Kundenservice- und Beratungsstellen bundesweit
  • Hat mehr als 1.400 Mitarbeiter

Die Geschichte der heutigen Pronova BKK reicht weit in die Vergangenheit zurück: Ihre Wurzeln liegen im Jahr 1815. Damit gehört sie zu den ältesten Krankenversicherungen Deutschlands. Und mit rund 660.000 Versicherten zählt die Pronova BKK auch zu den bundesweit größten Krankenkassen.

Es war der Kölner Verleger Marcus DuMont, der im Jahr 1815 eine so genannte Krankenunterstützungskasse gründete. Damit war der Unternehmer seiner Zeit weit voraus. Ein soziales Netz gab es noch nicht. Wer zu krank zum Arbeiten war, bekam weder Lohn noch Krankengeld. DuMont war einer der ersten Arbeitgeber, der sich tatkräftig für die Belange seiner Beschäftigten einsetzte. Spätestens mit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 gründeten viele Unternehmen ihre eigenen Betriebskrankenkassen. Mehr als 40 von ihnen gehören zu den Ursprungskassen der heutigen BKK.

Seit dem Jahr 2007 firmiert sie als gemeinschaftliche Betriebskrankenkasse unter dem Namen Pronova BKK. Sie ist aus den Fusionen von Betriebskrankenkassen einiger der bedeutendsten Unternehmen Deutschlands entstanden – darunter die Bayer AG, BASF SE, Continental AG und die Ford-Werke.

Betriebskrankenkassen fußen auf dem Prinzip der sozialen Verantwortung. Bei der Pronova BKK hat das eine 200-jährige Tradition, die wir uns bewahren. Unsere Maxime ist das „Kümmerer-Prinzip". Es definiert unsere Haltung des wertschätzenden Miteinanders.

Was aktuell gesund­heitspolitisch ansteht

  • „Sofortprogramm Pflege"
  • „Konzertierte Aktion Pflege"

Die Bundesregierung nimmt den Fachkräftemangel in den Pflegeberufen endlich ernst. Mit einem Gesetzentwurf will das Bundesgesundheitsministerium kurzfristig 13.000 zusätzliche Stellen in den Pflegeberufen schaffen. Und mit einer „Konzertierten Aktion" wollen gleich drei Bundesministerien innerhalb „kürzester Zeit" konkrete Maßnahmen erarbeiten, um mehr Menschen für die Pflege zu begeistern.

Das „Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals (Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz – PpSG)" soll bereits am 1. Januar 2019 in Kraft treten. Es sieht eine bessere Personalausstattung und bessere Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege vor, womit vor allem spürbare Verbesserungen im Alltag der Pflegekräfte erreicht werden. Das Gesetz umfasst die Pflege im Krankenhaus sowie in Pflegeeinrichtungen und soll den Beruf der Kranken- und Altenpflege insgesamt attraktiver machen. Für die Pflege im Krankenhaus setzt das Gesetz hauptsächlich an drei Stellhebeln an: Refinanzierung von neuen Stellen, Refinanzierung von Tarifsteigerungen sowie Refinanzierung von Ausbildungsstellen.

Die vollstationären Altenpflegeeinrichtungen sollen laut Gesetz sofort von 13.000 zusätzlichen Pflegekräften profitieren, damit insbesondere der Aufwand im Zusammenhang mit der medizinischen Behandlungspflege in der stationären Altenpflege pauschalteilweise abgedeckt werden kann. Und schließlich sollen Krankenhäuser und (teil)stationäre Pflegeeinrichtungen bei der betrieblichen Gesundheitsvorsorge von Pflegekräften und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt werden.

Die einzelnen Maßnahmen können dazu führen, dass die Not in den Pflegeeinrichtungen gelindert werden kann. Es bleiben aber noch viele Fragen offen, zum Beispiel, wo die Pflegekräfte herkommen sollen. Die Finanzierung der Tarifabschlüsse für das Pflegepersonal durch die GKV bedeutet aber, dass zukünftige Tarifverträge ausschließlich zu Lasten Dritter, nämlich der Beitragszahler, abgeschlossen werden. Dies setzt die bisherigen Tariffindungsmechanismen vollständig außer Kraft und stellt unkalkulierbare Finanzrisiken dar.

Auch die gemeinsame Aktion von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Franziska Giffey und dem Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil zeigt den Willen, mit den führenden Köpfen des Sozialsystems und den relevanten Akteuren der Pflege konkrete Maßnahmen zu entwickeln. Die drei Bundesminister haben sich vorgenommen, den Arbeitsalltag und die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften spürbar zu verbessern, die Pflegekräfte zu entlasten und die Ausbildung in der Pflege zu stärken.

Wir stehen für diesen Dialog als Partner im Gesundheitssystem gerne zur Verfügung.