ADHS im Erwachsenen­alter

ADHS bei Erwachsenen ist weit verbreitet – und bleibt doch oft unerkannt. Eine Diagnose kann entlasten und ist der 1. Schritt zu einem besseren Alltag. Wir klären auf über Symptome, Ursachen und Chancen.

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ADHS bei Erwachsenen ist weit verbreitet – und bleibt doch oft unerkannt. Eine Diagnose kann entlasten und ist der 1. Schritt zu einem besseren Alltag. Wir klären auf über Symptome, Ursachen und Chancen.

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Viel mehr als eine Kinder­krankheit

Viele Menschen verbinden ADHS zunächst mit dem Bild eines unruhigen Kindes, das im Unterricht nicht stillsitzen kann. Lange galt ADHS tatsächlich als reine Kinderkrankheit. Heute weiß man jedoch: Die Störung verschwindet nicht einfach, wenn Kinder erwachsen werden. Bei etwa 60 % der Betroffenen bleiben wesentliche Symptome der ADHS auch im Erwachsenenalter bestehen. Viele Betroffene erkennen jedoch erst spät, dass ihre innere Unruhe, ihre Vergesslichkeit oder ihre Schwierigkeiten mit Struktur und Zeitmanagement auf eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung zurückgehen. Bei Erwachsenen tritt die auffällige Hyperaktivität meist in den Hintergrund und zeigt sich eher als innere Unruhe. In diesem Zusammenhang hört man häufig den Begriff ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom). Im Gegensatz zur klassischen ADHS-Form ist hier die Hyperaktivität kaum sichtbar, sodass Betroffene oft still, aber unaufmerksam oder chaotisch wirken. Fachlich korrekt handelt es sich jedoch weiterhin um eine Form von ADHS. Schätzungen gehen davon aus, dass mehrere 100.000 Erwachsene in Deutschland betroffen sind – zwischen 2,5 und 4,7 % der Bevölkerung.

Eine späte Diagnose ist oft ein Schlüsselmoment. Plötzlich ergibt vieles Sinn – und an die Stelle von Scham oder Selbstzweifeln kann Erleichterung treten.

Ursachen von ADHS

Die Ursachen von ADHS sind komplex und noch nicht vollständig erforscht. Expert*innen gehen davon aus, dass mehrere Faktoren zusammenspielen.

ADHS hat eine starke genetische Komponente. Studien in Nature Genetics zeigen, dass die Veranlagung zu ADHS zu rund 70–80 % erblich bedingt ist. Wenn ein Elternteil betroffen ist, liegt das Risiko für die Kinder deutlich höher.

Im Gehirn spielen vor allem die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin eine Rolle. Störungen in ihrem Gleichgewicht können die Entstehung von ADHS begünstigen. Weil Dopamin und Noradrenalin Aufmerksamkeit, Motivation und Belohnungsverarbeitung steuern, wird verständlich, warum es Betroffenen schwerfällt, Aufgaben zu beginnen oder zu Ende zu bringen, die keinen unmittelbaren „Kick” bieten.

Frühgeburt, Sauerstoffmangel bei der Geburt oder schwere Stressbelastungen in der Kindheit können Symptome verstärken.

Neuere Forschung deutet darauf hin, dass auch Umwelteinflüsse Gene beeinflussen können, die für Aufmerksamkeit und Impulskontrolle wichtig sind. Studien, z. B. von Martínez-López et al. (2020), belegen, dass Faktoren wie Stress, Ernährung oder frühkindliche Erfahrungen epigenetische Veränderungen hervorrufen können, die die Genexpression in diesen Bereichen beeinflussen.

ADHS-Symptome bei Erwachsenen

Die 3 Kernsymptome – Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität – bleiben bestehen. Doch sie sehen bei Erwachsenen oft anders aus als bei Kindern.

  • Unaufmerksamkeit: Termine vergessen, den Überblick über Aufgaben verlieren, wichtige Dokumente verlegen. Manche starten mehrere Projekte gleichzeitig und bringen keines davon zu Ende.
  • Impulsivität: Spontane Entscheidungen, unüberlegte Ausgaben, Unterbrechungen in Gesprächen. Auch schnelles Aufbrausen gehört dazu.
  • Hyperaktivität: Weniger das Zappeln wie bei Kindern, sondern eher ein inneres Getriebensein. Betroffene beschreiben es als „ständig unter Strom stehen“.

Unterschiede zwischen Frauen und Männer

Lange galt ADHS als Jungenkrankheit. Das hat Spuren hinterlassen: Frauen werden bis heute seltener diagnostiziert. Ihre Symptome sind oft weniger offensichtlich, dafür subtiler: Träumerei, Vergesslichkeit, Überforderung, Prokrastination. Viele entwickeln Strategien, um ihre Probleme zu verstecken. Häufig werden sie mit Depression oder Angst diagnostiziert, bevor ADHS überhaupt in Betracht gezogen wird. Männer fallen dagegen häufiger durch impulsives Verhalten oder besonders starke Unruhe auf.

Diagnose im Erwachsenen­alter

Eine ADHS-Diagnose bei Erwachsenen ist häufig langwierig und erfordert mehrere unterschiedliche Untersuchungen.

  • Rückblick in die Kindheit: ADHS entsteht bereits im Kindesalter durch eine Kombination aus genetischen und umweltbedingten Faktoren. Ein zentrales Kriterium ist, dass die Symptome schon früh auftreten. Deshalb fragen Ärzt*innen nach Schulzeugnissen oder sprechen mit Angehörigen.
  • Abgrenzung: ADHS muss von anderen Erkrankungen unterschieden werden, etwa Depressionen, Angststörungen oder Persönlichkeitsstörungen. Häufig treten solche Begleiterkrankungen zusätzlich auf.
  • Methoden: Standardisierte Fragebögen, ausführliche Gespräche, Leistungstests und Fremdanamnesen bilden die Basis.

Weil viele Erwachsene gelernt haben, ihre Schwierigkeiten zu überspielen, bleibt ADHS oft lange unerkannt. Daher hören Erwachsene mit ADHS Bemerkungen wie „Reiß dich doch zusammen” oder „Du bist einfach chaotisch” besonders häufig. Das verstärkt Schuldgefühle und verzögert Hilfe.

Auswirkungen auf Körper und Psyche

ADHS ist mehr als Konzentrationsschwäche. Die Störung zieht Kreise und wirkt in fast alle Lebensbereiche.

  • Beruf: Betroffene geraten durch Termindruck und unstrukturierte Abläufe schnell in Stress. Gleichzeitig sind viele sehr kreativ und voller Ideen, sie können in Bereichen glänzen, die schnelle Entscheidungen erfordern.
  • Beziehungen: Unzuverlässigkeit, Vergesslichkeit oder emotionale Ausbrüche belasten Partnerschaften. Auch das Selbstbild „Ich enttäusche andere“ wiegt schwer.
  • Psychische Gesundheit: Bis zu 50 % der Erwachsenen mit ADHS entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Depression oder Angststörung, so die Selbsthilfeorganisation ADHS Deutschland. Auch andere Begleiterkrankungen, etwa Zwangsstörungen, Süchte oder Persönlichkeitsstörungen, treten häufiger auf.
  • Körperliche Gesundheit: Chronischer Stress, Schlafprobleme und ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind typische Begleiterscheinungen.

Das zeigt: ADHS ist keine Laune oder Ausrede, sondern eine ernsthafte neurobiologische Störung mit weitreichenden Folgen.

Wann solltest du ärztliche Hilfe suchen?

Wenn du dich in den beschriebenen Symptomen wiedererkennst und merkst, dass sie deinen Alltag spürbar belasten, ist der richtige Zeitpunkt gekommen, aktiv zu werden. Typische Anzeichen, bei denen es sinnvoll ist, professionelle Unterstützung zu suchen:

  • Du hast dauerhaft Schwierigkeiten, dich zu konzentrieren oder Aufgaben abzuschließen.
  • Dein Alltag gerät durch Unruhe, Vergesslichkeit oder Impulsivität regelmäßig aus dem Gleichgewicht.
  • Beziehungen oder dein Berufsleben leiden unter den Symptomen.
  • Du spürst psychische Belastungen wie Angst, depressive Verstimmungen oder anhaltenden Stress.

Der 1. Schritt ist meist die Hausärztin oder der Hausarzt. Sie können eine 1. Einschätzung geben und an Fachärzt*innen für Psychiatrie, Psychotherapie oder an spezialisierte Ambulanzen überweisen. In vielen Städten gibt es ADHS-Ambulanzen, die sich gezielt um Erwachsene kümmern. Auch Psychotherapeut*innen mit ADHS-Erfahrung sind wichtige Anlaufstellen.

Scheue dich nicht, aktiv nach Unterstützung zu suchen: Eine fundierte Diagnose bringt Klarheit und eröffnet Wege zur Behandlung.

Behandlungs­möglich­keiten

Die gute Nachricht: ADHS ist behandelbar. Therapie bedeutet nicht, Symptome komplett zu heilen, sondern sie so zu managen, dass ein erfülltes Leben möglich wird.

Medikamente

  • Stimulanzien wie Methylphenidat oder Amphetaminpräparate verbessern die Signalübertragung im Gehirn. Sie helfen, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle zu stabilisieren.
  • Nicht-stimulierende Medikamenten wie Atomoxetin oder Guanfacin kommen infrage, wenn Stimulanzien nicht vertragen werden.

Die Wahl des Medikaments erfolgt individuell und unter enger ärztlicher Kontrolle.

Psychotherapie und Coaching

  • Kognitive Verhaltenstherapie: Vermittelt Strategien für Struktur, Planung und Emotionskontrolle.
  • ADHS-Coaching: Alltagsnahe Unterstützung, z. B. beim Zeitmanagement oder bei beruflichen Herausforderungen.
  • Gruppentherapie: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann entlastend wirken und neue Ideen für den Alltag geben.

Alltagstipps

  • Aufgaben in kleine Schritte teilen.
  • Erinnerungs-Apps oder Timer nutzen.
  • Klare Routinen etablieren.
  • Bewegung in den Alltag einbauen. Sport wirkt sich nachweislich positiv auf Konzentration und Stimmung aus.
  • Genug Schlaf und feste Erholungszeiten einplanen.

Chancen und Stärken bei ADHS

So belastend die Symptome sein können, ADHS bedeutet nicht nur Defizite. Viele Betroffene bringen Fähigkeiten mit, die in unserer schnelllebigen Welt wertvoll sind: Kreativität, Spontaneität, Begeisterungsfähigkeit, hohe Energie. Erfolgreiche Unternehmer*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen berichten offen, dass Neurodiversität Teil ihrer Persönlichkeit ist – und sie trotz (oder wegen) dieser Herausforderung Großes erreichen.

Mentale Gesundheit

Kompass: Ambulante Hilfe bei psychischen Erkrankungen

Das Therapie- und Beratungsangebot Kompass bietet dir individuelle Hilfe bei psychischen Erkrankungen. Auch eine telefonische Beratung ist möglich, sogar in mehreren Sprachen.