Wie ticken Eltern heute? Weniger Leistungsdruck, mehr Lebensfreude. Das zeigt unsere Studie. Familienpsychologin Nina Grimm ordnet den familiären Wertewandel ein, erklärt Hintergründe und nennt Chancen, aber auch Risiken.
Pronova BKK: Unsere aktuelle Studie zeigt, dass Eltern mit Kindern bis 16 Jahren den Wert „Spaß haben“ doppelt so hoch einschätzen wie „Erfolg haben“. Worauf führen Sie dieses Ergebnis zurück?
Nina Grimm: Das lässt sich als eine Form der Evolution verstehen. Die heutige Elterngeneration wurde in einer Zeit sozialisiert, in der Aufmerksamkeit und Anerkennung oft an Leistung gekoppelt waren. Wer eine 1 nach Hause brachte, bekam ein Schulterklopfen. Ansonsten galt die Aufmerksamkeit oft der Zeitung und nicht dem Kind. Auch wenn uns diese Prägungen nicht zwangsläufig schaden, hinterlassen sie doch Spuren bis ins Erwachsenenalter. Perfektionismus, überhöhte Selbstansprüche, ständiger innerer Druck oder der Vergleich mit anderen.
Pronova BKK: Und daraus folgt?
Grimm: Dadurch ist bei vielen jungen Eltern ein gewisser emotionaler Mangel entstanden, den sie heute in der Erziehung der eigenen Kinder nicht nur kompensieren wollen. So wird der Fokus mehr auf Beziehung und Spaß statt auf Erfolg gesetzt.
Pronova BKK: Also eine deutliche Verschiebung der Prioritäten, weg von Erfolg und Leistungsdruck. Wie erklären Sie sich diesen Trend?
Grimm: Wir beobachten einen Wertewandel, der auf mehreren Ebenen wirkt: Der wirtschaftliche Erfolg der Generationen vor uns – der Babyboomer und der Generation X – hat einen Wohlstand geschaffen, der der neuen Generation den Fokus auf persönliches Wachstum und Selbstverwirklichung ermöglichte. Gleichzeitig hat sich die soziale Realität verändert. Während es früher realistisch schien, mit Fleiß und Sparsamkeit bis Mitte 30 ein Haus und ein Auto zu besitzen, ist heute für viele das Teuerste in der Zwei-Zimmer-Wohnung die italienische Kaffeemaschine. Denn aufgrund der hohen Lebensunterhaltskosten können oft keine finanziellen Puffer gebildet werden. Es fehlen also schlicht die äußeren Perspektiven, um an Erfolg interessiert zu sein.
Pronova BKK: Was sagt das über die heutige Gesellschaft aus?
Grimm: Wir sehen eine Zuspitzung individualistischer Tendenzen. Persönliche Erfüllung zählt heute mehr als beruflicher Erfolg. Mit spürbaren Folgen für Arbeitsmarkt und Wirtschaft. Doch leider werden die Menschen dadurch nicht unbedingt glücklicher. Die Zahl der psychischen Erkrankungen, insbesondere Depressionen und Suchterkrankungen, steigt weiter. Das stimmt nachdenklich.
Pronova BKK: Gleichzeitig zeigen die Studienergebnisse, dass Verantwortung, Hilfsbereitschaft und Höflichkeit die wichtigsten Erziehungsziele für Eltern sind. Was bedeutet das?
Grimm: In diesen Werten spiegeln sich 2 zentrale Bedürfnisse wider. Zum einen wünschen sich Eltern soziale Kompetenz für ihre Kinder, also die Fähigkeit, achtsam mit sich selbst und anderen umzugehen. Zum anderen reagieren sie damit auf eine Welt, die als unübersichtlich und instabil empfunden wird. Wer Verantwortung übernimmt, hilfsbereit ist und respektvoll kommuniziert, kann in Gemeinschaften bestehen und wird als verlässlicher Teil des Ganzen wahrgenommen. In Zeiten der Individualisierung setzen viele Eltern bewusst auf diese analogen Werte, um ihren Kindern Halt und Orientierung zu geben.
Pronova BKK: Es gibt also einen deutlichen Wertewandel zwischen den Generationen – weg von der Konkurrenz, hin zum Miteinander. Was treibt diesen Wandel an?
Grimm: Es sind mehrere Faktoren: Zum einen erleben viele Eltern selbst, wie belastend der ständige Vergleich und der Optimierungsdruck ist. Im Job, in der Schule, in den sozialen Medien. Diesen Stress wollen sie ihren Kindern ersparen. Zweitens gewinnen Themen wie psychische Gesundheit, Diversität und Nachhaltigkeit an Bedeutung. Alles Themen, die Kooperation statt Konkurrenz erfordern. Drittens verändern sich die Erziehungsstile: Weniger autoritär, mehr dialogisch. Wer seine Kinder ernst nimmt, will keine Überflieger, sondern sozial integrierte, empathische und kooperationsfähige Menschen.
Pronova BKK: Individualität und Gemeinschaft schließen sich also nicht aus?
Grimm: Im Gegenteil. In einer Welt, in der Individualität immer wichtiger wird, wächst auch der Wunsch nach echter Gemeinschaft. Nicht als Gegensatz, sondern als notwendige Ergänzung. Wer seinen eigenen Weg gehen will, braucht soziale Fähigkeiten, um stabile Beziehungen aufzubauen. Kooperation und Empathie sind heute notwendiger denn je für eine erfolgreiche Individualität.
Pronova BKK: Die meisten Eltern möchten sich aktiv um die Erziehung kümmern. Was steckt dahinter und wo liegen Chancen und Risiken?
Grimm: Das starke Engagement hat 3 Gründe. 1. viele junge Menschen entscheiden sich sehr bewusst für ein Kind. Das führt fast automatisch zu einer höheren Beteiligungsbereitschaft. 2. wollen viele Eltern ihre eigenen Schmerzpunkte aus der eigenen Kindheit ausgleichen. War etwa der Vater ständig abwesend, legt man als Vater Wert darauf, den morgendlichen Bringdienst zu übernehmen. 3. leben wir in einer Gesellschaft, in der Optimierung eine zentrale Rolle spielt. Dieser Anspruch überträgt sich oft auf das „Projekt Kind“.
Pronova BKK: Was heißt das konkret?
Grimm: Auf der einen Seite erfahren Kinder dadurch viel Zuwendung, Aufmerksamkeit und eine enge Bindung – ein großes Plus. Auf der anderen Seite birgt das auch Risiken. Wenn Eltern sich zu sehr mit der Entwicklung ihres Kindes identifizieren, kann es leicht zu einem Überengagement kommen. Kinder haben dann weniger Raum für eigene Erfahrungen, Eltern geraten in eine Spirale der Selbstoptimierung. Der Selbstwert wird mitunter vom Verhalten des Kindes abgeleitet. Wenn das Kind auf offener Straße durchdreht oder sich gegenüber der Oma patzig verhält, wird das schnell als persönliches Scheitern empfunden. Das erhöht den Druck und erschwert einen konstruktiven Umgang mit vielen herausfordernden Alltagssituationen.