Viele Eltern wollen alles richtig machen und bemühen sich, liebevoll und unterstützend zu erziehen. Dabei geraten sie häufig in eine Gemengelage zwischen Fürsorge und Überbehütung. Familienpsychologin Nina Grimm spricht im Interview über verbreitete Denkfehler moderner Erziehung, die Bedeutung von Frustrationserfahrungen und darüber, warum Kinder vor allem eines brauchen: klare Grenzen und Eltern, die Emotionen aushalten und einfühlsam begleiten.
Pronova BKK: 41 % der Eltern beschreiben ihren Erziehungsstil als besonders wertschätzend und unterstützend. Wo verläuft die Grenze zur Überbehütung?
Nina Grimm: Aus psychotherapeutischer Sicht wird es problematisch, wenn Eltern ständig unter innerem Strom stehen, weil sie ihr Kind vor negativen, schmerzhaften oder frustrierenden Erfahrungen bewahren wollen. Nicht primär, um das Kind zu schützen, sondern um eigene Unsicherheiten und Ängste zu regulieren.
Pronova BKK: Was sind typische Beispiele dafür?
Grimm: Etwa, das Kind nicht bis ganz oben aufs Klettergerüst zu lassen – aus Angst, es könnte sich wehtun. Oder ihm nicht zuzutrauen, sich die Schuhe selbst zuzubinden, weil man überzeugt ist, dass es das noch nicht kann. Auch: die Trinkflasche lieber schnell selbst aufmachen, damit es nicht frustriert ist. Oder: Wutanfälle vermeiden, weil man sich nicht zutraut, das Kind in solchen Momenten zu begleiten. Doch genau das brauchen Kinder. Die Möglichkeit, buchstäblich auf die Nase zu fallen, sich auszuprobieren, zu scheitern und wieder aufzustehen. Nur so lernen sie, nur so wachsen sie. Wenn wir ihnen das aus unserem eigenen Sicherheitsbedürfnis heraus vorenthalten, nehmen wir ihnen wichtige Entwicklungserfahrungen.
Pronova BKK: Können Eltern auch zu viel loben?
Grimm: Ja, zumindest dann, wenn Lob inflationär erfolgt. Wenn ein Kind ein Bild malt, dann zunächst aus Freude am Prozess. Es ist intrinsisch motiviert. Zeigt es das Bild den Eltern, sagt die Mama: „Wow, toll gemalt!“ Und das Kind bekommt einen kleinen Dopamin-Kick. Fehlt es aber an anderer Stelle an ungeteilter Aufmerksamkeit und Zuwendung, wird das Lob zum Ersatz und das Kind malt irgendwann nicht mehr um des Malens willen, sondern aus dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Pronova BKK: Was sieht die Alternative aus?
Grimm: Eher beschreibend reagieren. Sich Zeit nehmen, das Bild gemeinsam anschauen, sagen: „Du hast zum 1. Mal verschiedene Farben benutzt. Das sieht hübsch aus.“ Eltern dürfen sich natürlich auch trotzdem authentisch und von Herzen freuen. Aber es sollte eben wirklich von Herzen kommen und nicht automatisiert oder konditioniert sein.
Pronova BKK: Viele Eltern wollen „die beste Freundin“ oder „der beste Freund“ ihres Kindes sein. Wie wirkt sich das auf die emotionale Entwicklung aus?
Grimm: Dahinter steckt die positive Absicht, die Beziehung in den Mittelpunkt zu stellen. Konflikte auf Augenhöhe zu lösen und eine echte Bindung aufzubauen und zu erhalten. Das ist ja auch erst mal wichtig und wirkt sich positiv auf die Entwicklung aus. Aber die Absicht „bester Freund“ oder „beste Freundin“ zu sein, hat für mich aus familienpsychologischer Sicht einen schalen Beigeschmack namens Konfliktvermeidung. Dahinter steckt oft der überhöhte Anspruch, dass alles immer im Konsens und in lieblicher Tonlage mit einem Lächeln auf den Lippen geschehen muss. Das ist ein überhöhter Anspruch.
Pronova BKK: Warum?
Grimm: Es gibt Momente, in denen wir als Eltern Entscheidungen treffen müssen, die dem Kind nicht gefallen. Z. B., wenn wir einer 9-jährigen gegenüber klar vertreten müssen, dass sie noch kein Smartphone bekommt – auch wenn sie deshalb richtig wütend wird. Als Eltern halten wir diese Wut aus und begleiten sie. Weil wir einschätzen können, dass ein Smartphone ihrer Gehirnentwicklung gerade schadet und sie langfristig davon profitieren wird, wenn sie noch 2 Jahre damit wartet. Als beste Freundin hingegen würden wir womöglich mit dem Kind gemeinsam über die „ätzenden Alten“ schimpfen. Es gehört zur Eltern-Job-Beschreibung dazu, dass wir manchmal Dinge tun und sagen müssen, auch wenn sie unseren Kindern nicht gefallen, weil wir manche Dinge einfach tatsächlich noch besser entscheiden können und meines Erachtens auch müssen. Eltern sind Gefährten. Aber keine beste Freundin oder bester Freund.
Pronova BKK: Rund 1/5 der Eltern versucht, dem Kind möglichst alle Wünsche zu erfüllen. Warum kann das problematisch sein?
Grimm: Die bedürfnis- und bindungsorientierte Erziehung trifft in der alltäglichen Praxis auf die Überzeugung der Eltern, dass das Familienleben ein Wunschkonzert ist. Vor allem Mütter reißen sich ein Bein aus, um die Bedürfnisse der Kinder bedingungslos zu erfüllen. Dahinter steckt oft eine gewisse Unsicherheit oder die Angst vor dem nächsten Wutanfall: „Was, wenn ich es nicht schaffe?“ Also nehmen sie sich selbst zurück und opfern sich auf.
Pronova BKK: Wo sind die Grenzen?
Grimm: Natürlich ist es richtig, bei einem Säugling sofort zu reagieren – z. B., wenn das Baby weint, weil es Hunger hat. Aber ab dem Kleinkindalter gelten andere Regeln. Wir dürfen unseren Kindern etwas zumuten. Frustration und Grenzen sind wichtige emotionale Erfahrungen, für eine gesunde Entwicklung. Das bedeutet nicht, dass wir das Kind alleine lassen. Es geht vielmehr darum, auch diese Erfahrungen zuzulassen und sie liebevoll zu begleiten, statt sie permanent zu vermeiden.
Pronova BKK: Haben Sie ein Beispiel?
Grimm: Ich erinnere mich an Mamas in meiner damaligen bedürfnisorientierten „Bubble“, die regelmäßig Verabredungen mit dem Satz absagten: „Ich würde euch so gerne alle sehen, aber Mathilda will heute nicht raus.“ – weinender Smiley. Solche Entscheidungen laden zu viel Verantwortung auf kleine Schultern. Die tatsächlich als Last empfunden werden kann – und sich nicht selten Ausdruck in aggressivem Verhalten ausdrückt. Es gibt einen wichtigen Unterschied, um die Balance zwischen Bedürfnisorientierung und Grenzen halten zu können: Kinder sind gleichwertig. Aber nicht gleichberechtigt.
Pronova BKK: Können Sie das erläutern?
Grimm: Kinder haben noch nicht die kognitiven Voraussetzungen, um alle Konsequenzen ihres Handelns zu überblicken. Sie brauchen deshalb unsere Führung und unsere Grenzen. Das heißt nicht, dass wir autoritär entwertend zensieren müssen. Sondern, dass wir ihnen vielmehr die Möglichkeit geben, in einem emotional sicheren und wertschätzenden Rahmen, wichtige Erfahrungen zu machen. Und nicht zuletzt auch die Möglichkeit zu bekommen, wichtige soziale Kompetenzen am Modell zu lernen: Wie setze ich Grenzen, ohne zu verletzen? Wie drücke ich aus, was ich möchte? Wie argumentiere ich für meinen Standpunkt? Und wie finden wir Kompromisse? All diese Lernerfahrungen sollten wir Kindern nicht vorenthalten. Grenzen sind ein emotionales Grundbedürfnis.
Pronova BKK: 84 % der Väter und 77 % der Mütter sagen, ihrer Vorbildfunktion immer gerecht zu werden. Wie erklären Sie sich diese hohen Werte?
Grimm: Die hohen Werte überraschen mich. Denn das Verhalten der Eltern weicht oft stark von dem ab, was wir unseren Kindern predigen: Wir knallen Türen, essen die ganze Chipstüte auf und schalten Netflix selten nach der 1. Serie ab. Das zuzugeben ist unangenehm. Also blendet unser System es lieber aus. Das könnte ein blinder Fleck sein, um den eigenen Selbstwert zu schützen.
Pronova BKK: Was könnte helfen?
Grimm: Vielleicht beziehen sich Eltern mit dieser Aussage eher auf ihr Lebensmodell: sozial integriert, beruflich erfüllt, zufrieden in der Partnerschaft. Wenn sie das so empfinden – wunderbar. Denn selbstsichere Eltern, die mit sich und ihrem Leben zufrieden sind, sind gute Prädiktoren für glückliche Kinder.
Pronova BKK: Fast alle Eltern achten auf gutes Benehmen ihrer Kinder. Aber 4 von 10 finden, dass andere Kinder schlecht erzogen sind. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?
Grimm: 2 Faktoren spielen hier eine Rolle: der soziale Vergleich und die Negativitätsverzerrung unseres Gehirns. Menschen sind soziale Wesen, und wir nehmen uns immer im Kontext unserer Peers wahr. Wenn ich also Mutter bin, dann fallen mir automatisch die anderen Mütter und ihr Verhalten auf. Das heißt, auf dem Spielplatz achte ich als Mutter aus rein neuropsychologischen Gründen immer auf das Kind, das laut ist, schreit oder sich danebenbenimmt. Es bleibt uns eher im Gedächtnis.
Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es tatsächlich mehr unerzogene Kinder gibt. Sondern lediglich, dass sie uns mehr auffallen und besser in Erinnerung bleiben. Wahrscheinlich eher negativ. Und daraus formen wir dann unsere Werte: „So soll mein Kind nicht sein“. Und zack – steht es ganz oben auf der Liste des „guten Benehmens“.